Der Wiegenschütz

Eine Erzählung aus dem schweizerischen Schützenleben

von J.C. Heer

Zürich

Diese eher einfach gewirkte Liebesgeschichte zwischen einem heiratsunwilligen Schützen und einer „schönen Brünetten“ erhält ihre Besonderheit dadurch, dass diese „feinsinnige“ Brünette mit Namen Hermine Maienfisch „aus ihrer Sommerfrische zu Guggisberg in unsere Mauern zurückgekehrt“ ist. Der Ort Guggisberg, 15 km südwestlich von Bern gelegen, ist allen Schweizern durch das „Guggisberger Lied“ bekannt. Das Lied handelt von einem «Vreneli» aus Guggisberg, das sich nach seinem Auserwählten «Simes Hans-Joggeli» (Simons Hans-Jakob) sehnt und im Bild des sich unablässig drehenden Mühlrads Trost für seine ausharrende Liebe findet. Dem Autor des „Wiegenschütz“ war die dem Lied zugrundeliegende traurige Geschichte sicher bekannt; er wollte, dass seine Geschichte ein glücklicheres Ende finden würde.

 

Das sagenumwobene Guggisberglied ist vielleicht das bekannteste Schweizer Volkslied und beruht wohl auf einer wahren Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Es geht um Vreneli und ihren Geliebten Hans-Joggeli aus ärmeren Verhältnissen, der mit einem reicheren Nebenbuhler eine Schlägerei hat. Hans-Joggeli gewinnt zwar den Kampf, doch da er glaubt, seinen reicheren Kontrahenten dabei umgebracht zu haben, flieht er und tritt, wie damals üblich, in fremde Kriegsdienste ein. Jahre später erfährt er, dass sein Gegner doch überlebt hat, kehrt nach Hause zurück, doch ist Vreneli inzwischen aus Kummer gestorben.

Die Wiege, die von Schweizern in Honolulu gestiftet wurde
(In) der Schweiz, der Heimat der Schützenfeste, giebt es eine Stadt, welche in der Abhaltung solcher eine besondere Stärke besitzt …

Diese Stadt, an einem lieblichen See gelegen und stets mit bestem Festwetter versehen, verstand es wie keine andere, bei den Schweizern des In- und Auslands schöne und originelle Gaben zu gewinnen. Dieses Mal war der begehrteste Preis eine aus kostbarem, asiatischen Holz geschnitzte Wiege … des Schweizervereins in Honolulu, der überdies für den ersten Säugling, welcher in diese Wiege zu liegen komme, ein Pathenangebinde von 2000 Franken auf der Bank der Seestadt niedergelegt hatte.

Die Konkurrenz der Seestädter waren die „Nichtseestädter“, die auf diesem Bild heranmarschieren. In der Mitte der Vater des Fähnrichs Hermann Steiner (rechts). „Von den Balkonen der Häuser, wo die lieblichen Frauen und Jungfrauen der Seestadt in alterthümlichen und modernen Trachten saßen, regnete es Blumensträuße auf die Schützen und plötzlich verfing sich die Schlinge eines Alpenrosenkranzes … an der vergoldeten Spitze des nichtseestädtischen Banners“.

„Unwillkürlich wandte Hermann Steiner … den Blick nach den Spenderinnen, zwei lieblichen, weißgekleideten Mädchen … Das jüngere der beiden, eine schöne schlanke Brünette, … verbarg sich vor dem Blick des Fähnrichs lächelnd und schamroth halb hinter der älteren Freundin.“

Die einmarschierenden Nichtseestädter, angeführt von Hermann Steiner: am Balkon die den Kranz werfenden Damen
Vater Steiner hält seine Rede
Dem Anfang des Schießens pflegte ein „vaterländisches Mahl“ voranzugehen, währenddem von der Tribüne herab verschiedene Festreden gehalten wurden. Plötzlich erhob sich der Ruf, Vater Steiner aus der Nichtseestadt solle reden.

„Schützenfreunde, Waffenbrüder! Zu einer Wiege gehört ein Säugling, wie zu einem Stutzen ein Schütz. Wir Schützen aber, die in offener Feldschlacht einst vor dem Feind stehen werden, wie die alten Eidgenossen bei Sempach, fürchten niemand mehr als die Säuglinge. Kameraden, wenn der Feind im eigenen Schlafzimmer sitzt, wenn er uns meuchlings überfällt im Frieden der Nacht, … was nützt uns da  … der vaterländische Stutzen? … Ja, Schützenfreunde, Waffenbrüder, vor den Säuglingen und Wiegen sind wir schwach!“

Kameraden, wenn ihr nun aber glaubt, die Wiege von Honolulu wäre ein unnützes Schützengeschenk, so seid ihr auf dem Holzwege. Eine  … patriotischere Gabe hätten uns die lieben treuen Miteidgenossen im fernen Osten gar nicht spendieren können. Das Vaterland braucht Männer. Aus den Wiegen wachsen sie empor und wo eine steht im Schweizerland, kann man nicht behaupten, daß darin nicht ein zukünftiger Bundespräsident, ein eidgenössischer General liege … Es lebe die Wiege von Honolulu, es lebe der Zukunftsschütz!

Hermann Steiner … hatte den Stutzen über die Schulter gehängt und flanierte auf dem volksbelebten Festplatz … Hatte ihn auch die Hoffnung hingeführt, daß er vielleicht … auch der lieblichen Kranzwerferin und ihrer Freundin begegnen werde, so fand er sich  … enttäuscht und wandte sich in der Absicht, einige Probeschüsse zu thun, dem Schießstand zu.  … da ihn das Bild der erröthenden Brünette umgaukelte, schritt er statt zu Probeschüssen gleich zu den Standnummern, deren bester Schütze die Wiege gewinnen sollte.

Als er eben das Gewehr erhob, um zum ersten Schuß anzulegen, hörte er hinter sich ein loses Kichern und die von einer Mädchenstimme gesprochenen Worte: „Da ist er“ …
Hermann Steiner erkannte die beiden Mädchen und frug, wie er zu der Ehre des Kranzes gekommen sei. „Ei, ein Scherz war’s!“ lachte die Blondine, „meine Freundin, die ich Ihnen als Fräulein Hermine Maienfisch und Bürgerin unserer Stadt vorstelle, ist … aus ihrer Sommerfrische zu Guggisberg in unsere Mauern zurückgekehrt,… Da im Haus ihres Oheims, der auch in der Sommerfrische ist, niemand weilt, der an dem Kranze hätte seine Freude haben können, und da meine Freundin heute Abend wieder abreist, so beschlossen wir, ihn dem ersten Fähnrich auf das Banner zu werfen, der dasselbe mit Chic trüge“. …

Hermann Steiner am Schießstand, hinter ihm die beiden Mädchen
Hermann Steiner, dem es bei der neckischen Rede heiß um’s Herz geworden war, fühlte, daß er jetzt nicht die nötige Sicherheit für einen Meisterschuß besaß; … Er schoß die drei vorgeschriebenen Schüsse; aber wie?

Der erste saß in der Ecke links oben, – der zweite rechts unten – der dritte in der Mitte neben dem Schwarzen.

Scherzend erklärte ihm die Blondine, daß er das Banner besser zu führen wisse, als den Stutzen, … Hermine Maienfisch aber, die feinsinnigere, … , war das Blut in die Wangen geschossen und die Blondine unterbrechend, sagte sie: “ … Wer könnte schießen und treffen, wenn ihm zwei Närrinnen in die Kunst gucken. “ …

Gott Amor zielt (mit Erfolg) auf eine Scheibe
Geschlagen von Scham über sein Schützenmißgeschick und von plötzlicher Verliebtheit … Doch nicht lang‘, so schwirrte ihm ein kühner Plan durch den Kopf. … Vater Steiner erhielt ein Billet. „Mein Vater! – Ich habe sehr schlecht geschossen und ziehe mich deshalb vom Fest gänzlich zurück, um die Freuden desselben durch einen kurzen Abstecher nach Bern zu ersetzen.“
Heimlich doch von dem Streich Hermanns unangenehm überrascht, zog sich Steiner, der Vater, früh von dem Fest in seinen Gasthof zurück. … Da er das Sprüchwort: „Morgenstund hat Gold im Mund,“ als Schütze besonders beherzigte, so war er schon … um sechs Uhr im Stand und zielte seine Kugel mit einer Kaltblütigkeit in’s Schwarze, die jedem Freund der Kunst zur Nachahmung empfohlen werden darf.
Nie in seinem Leben hatte er besser geschossen …

Während die Seestädter vor Aerger von ihrem Lager sprangen, thaten es die Nichtseestädter vor Freude. Die ersten von ihnen … hoben den Schützen … unter Hochrufen auf die Schultern und trugen ihn in die Festhalle …

 

Vater Steiners Triumphzug als bester Schütze und Gewinner der Wiege
Zu Ehren des Siegers veranstalteten die Seestädter eine große Lustfahrt auf dem See, bei der Vater Steiner vor den Seestädtern und den Nichtseestädtern das Versprechen ablegte, die Wiege solle bis in einem Jahr durch seinen Sohn Hermann ihren Zweck erreichen, sonst werde er sie als Gabe für ein neues Schießen dediziren.
Nebenstehender Text zeigt, dass Hermann Steiner nicht, wie dem Vater angekündigt, eine Auszeit in Bern genommen hatte; vielmehr war er nach Guggisberg gefahren, um beim Oheim der Hermine Maienfisch um deren Hand anzuhalten.

 

Ausschnitt aus dem Originaltext

.. da der Onkel wünschte, daß das glückliche junge Paar nun sofort den Segen von Hermann’s Vater einhole, trug der Zug die Beiden zu gleicher Zeit von der Guggisberger Seite der Nichtseestadt entgegen, als von der Seestadt her die nun ebenfalls die Bahn benutzenden Schützen ihrer Heimat nahten.

Hermann und Hermine dagegen erreichten unbemerkt ein halbe Stunde vor den Schützen den Bahnhof der Nichtseestadt und fuhren unbemerkt zum Steinerschen Vaterhaus. Die Schützen begleiteten Vater Steiner in einem festlichen Zug auch dorthin; der Vater hielt nun noch folgende Ansprache.
Ich habe die Freude, Euch ein Brautpaar vorzustellen: Hermine Maienfisch aus der Schützenfeststadt, Hermann Steiner von hier, an welchen ich hiermit die Wiege von Honolulu cedire. Möge sie ihnen eine Wiege des Glückes sein. Amen.

Und am Ende der Geschichte stehen die Zeilen:

Als sich das Schützenfest jährte, holte der alte Steiner selbst das durch einen Enkel fällig gewordene Pathenangebinde von Honolulu auf der Bank der Seestadt ab und seit diesem ersten haben noch sechs Steiner, alle Prachtjungen, in der Wiege von Honolulu gelegen.

Vater Steiner, das Brautpaar und der Stadtpräsident