Zum VII. Bundestag des Deutschen Radfahrer-Bundes (1. bis 6. August in München) und ebenso zum V. Kongreß der Allgemeinen Radfahrer-Union (9. bis 12. August in München) gab der „Radfahr-Humor“ 1890 eine gemeinsame Festschrift heraus. Sie enthielt beide Festprogramme und die Programme für die Velociped-Wettfahrten. Seine kgl. Hoheit, der Prinzregent von Bayern, hatte zwei Ehrengaben gestiftet, die jeweils durch Rennen auf dem Hochrad (!) gewonnen werden konnten. Daneben gab es aber auch Rennen auf dem Niederrad (Sicherheitszweirad), dem Dreirad und sogar dem Doppelsitz-Dreirad (siehe unten).
Im zweiten Teil dieser Festschrift fand sich ein „humoristischen Teil“, der weitgehend durch den Artikel „Briefe aus dem Schlaraffenland“ bestritten wurde. Das alte Märchen vom Schlaraffenland wurde darin mit den Errungenschaften der Neuzeit fortgeführt. Die illustrierenden Zeichnungen stammten alle von Emil Kneiß, der zu diesem Zeitpunkt aber gerade in Berlin studierte.
Humbugwaya, 1. April 1888
Geehrter Herr Redakteur!
Heureka! Sie haben Ihre Wette verloren! Es gibt in der That ein Schlaraffenland und ich befinde mich an seiner Grenze. … Hat Schliemann Troja ausgegraben, warum sollte es mir nicht gelingen, den Schleier von der Schlaraffensage zu heben?
Ohne meine treuen Begleiter Dr. Schwefelmeier und Apotheker Aufschneider wäre mir dies freilich nicht möglich gewesen. Stellen Sie sich vor, was es heißt, ohne weitere Hilfsmittel, als mit einem Jägerschen Normalanzuge, einem Taschenkompaß, einem Opernglas, einem Reisesack mit Konservenbüchsen und einer kleinen Reiseapotheke, einem Passe-partout-Bicycle [ähnlich einem heutigen Klapprad] und einem monatlichen Zuschuß vom Radfahr-Humor, den Sie ja selbst kennen, weiter in das Innere von Mittelafrika vorzudringen, als es bisher selbst Stanley möglich war. [Henry M. Stanley hatte seine berühmte Suche nach dem Missionar Livingston 1870/71 durchgeführt.]
… Stellen Sie sich unser Erstaunen vor, als wir eines Tages mitten in dieser, aller Beschreibung spottender Wildnis den Pfiff einer Lokomotive vernahmen, und nicht viel später eine Stadt vor uns ausgebreitet sahen, die im höchsten Maße das Gepräge moderner Kultur an sich trug. Es war Humbugwaya! …
… Von der Höhe der Kultur, der Vollendung der staatlichen und sozialen Einrichtungen, welche man hier vorfindet, machen Sie sich keinen Begriff. Steuern, Staatsschulden, Polizei, gerichtliche Prozesse, Konkurs, das sind alles Worte, die in der schlaraffischen Sprache gar nicht existieren. Es gibt hier kein Staatsoberhaupt, keine Regierung, keine Gesetze, sondern es wird alles automatisch geleitet, Krieg ist schon deshalb nicht denkbar, weil keine Nachbarstaaten vorhanden sind, Revolutionen auch nicht, da man ja bei der völligen Gleichberechtigung und Gleichstellung sämtlicher Einwohner gar nicht wüßte, gegen wen sich dieselbe richten sollte. Folglich kennt man auch kein Militär. …
Hokuspopolis, 12. Dezember 1888
Geehrter Herr Redakteur!
Wenn wir auf unsre Kulturerrungenschaften stolz sind, so befinden wir uns sehr im Unrecht. Hier im Schlaraffenlande ist man darin mindestens um ein Jahrhundert voraus. Ich will Ihnen nun einen Tag in Hokuspopolis schildern und Sie werden mir das zugeben.
Wir befinden uns auf dem Balkon, Zimmer Nr. 12567 im 35. Stock des Hotels Mervail. Die große perpetuum mobile-Uhr des Vergnügungs-Etablissements „Ubi sunt qui antenos“ hat soeben eine großartige Symphonie mit dem Leitmotiv der sechsten Morgenstunde vorgetragen. Ein unabsehbares Meer von Häuserkolossen, auf deren Dächern die herrlichsten Parkanlagen, Blumen- und Obstgärten mit künstlichen Springbrunnen und Wasserwerken aller Art abwechseln, breitet sich vor uns aus. … Eine ganze Welt plastischer Kunstwerke, die in den berühmten Originalen der Antike nicht ihresgleichen finden, belebt diese wunderbaren Gärten, in welchen die Vorzüge und Annehmlichkeiten des Frühlings, des Sommers und des Herbstes gleichzeitig zur Erscheinung gelangen.
Das aber, was unsre Blicke am meisten fesselt, ist ein Bauwerk, welches den Pariser Eiffelturm [1889, im Jahr zuvor fertig gestellt] etwa um das vierzigfache an Höhe übertrifft. Es ist der Sonnenturm. Hokuspopolis hat nämlich seine eigene künstliche Sonne. Auf der Spitze des Turmes befinden sich enorme elektrische Lampen, welche die Stadt in der Nacht nach alle Seiten hin beleuchten, so daß ein Unterschied zwischen Tag und Nacht gar nicht existiert. Im Inneren des Turmes befinden sich Maschinenwerke von entsprechenden Dimensionen, welche die Regulierung der Niederschläge, der Temperatur und des Windes, je nach Wunsch und Bedürfnis der Hokuspopolianer besorgen. Es wird dadurch der so lästige Landregen während der Pfingstfeiertage und zu anderen unpassenden Gelegenheiten vermieden.
Fast noch größeres Erstaunen als dieses Wunderwerk erregt der fabelhafte Straßenverkehr. Das Wort Straßenverkehr ist hier natürlich etwas weiter zu fassen, indem zu den Verkehrswegen nicht allein die unterirdischen, sondern hauptsächlich auch die Luftstraßen gezählt werden müssen. Auf den Parterrestraßen sehen wir als Beförderungsmittel fast ausschließlich Eisen- und Straßenbahnen, durch Elektrizität getrieben, sowie Bicycles, Tricycles, Stahlradomnibus, Stahlrad-Bier- und Möbelwagen und andere Stahlradfuhrwerke. Die Luft ist aber außer von gebratenen Tauben, Gänsen, Enten, Fasanen und andrem Geflügel, von einer Anzahl kleinerer und größerer lenkbarer Luftschiffe bevölkert und alles dies bewegt sich mit fabelhafter Geschwindigkeit durcheinander, so daß man ungefähr das Gefühl hat, als befände man sich im Innern eines gewaltigen Ameisenhaufens.
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Diese „Briefe aus dem Schlaraffenland“ enden mit einer Einladung der drei Entdecker zu einer Familie Goldmann; in der Zeichnung „Familie Goldberg“, die aber offensichtlich jüdischer Abstammung ist. Der Verfasser der „Briefe“ war wohl der Ansicht, dass der nunmehr beschriebene Luxus so nur in reichen jüdischen Familien vorkommen könne.
… Soeben erhalte ich ein Kärtchen durch eine gebratene Taube. Herr Privatier Goldmann bittet uns zum Diner! – Sehr angenehm! –
… Die elektrische Stahlrad-Straßenbahn bringt uns zu Herrn Goldmann in die Sieben-Meilen-Straße Nr. 769182, wo wir vom Herrn des Hauses mit seinen 58 Söhnen und 67 Töchtern auf der Kristallterrasse empfangen werden. Von dem silbernen Korridor mit der Spiegelgalerie wenden wir uns links und gelangen durch einen 800 Meter langen Elfenbeingang in den goldenen Saal. – Was Kunst und Phantasie, Reichtum und Geschmack hervorzubringen vermag, scheint hier in einem vollendeten Ganzen vereint zu sein und dennoch will uns die Bescheidenheit des Gastgebers glauben machen, daß dies nur ein Schatten sei gegen das, was andre Hokuspopolianer in der Ausstattung ihrer Wohnungen leisten. –
Wer den vollständigen Text dieser „Briefe“ lesen möchte: Ein Klick auf das untenstehende Bild führt zum Ende der Geschichte im Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek! Von dort nach links weiterklicken!